Genesis – The Lamb Lies Down On Broadway


Erscheinungsjahr 1974 | SACD + DVD | Progressive Rock

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100 Rezensionen! Die Jubiläumsrezension sollte etwas besonderes werden. Es wurde schnell klar, dass es Zeit wird, mein (vielleicht) Lieblingsalbum zu besprechen. Die Rede ist von THE LAMB LIES DOWN ON BROADWAY von Genesis, welches ursprünglich im Jahr 1974 erschienen ist.

Als das Internet noch recht neu war, gab es Anfang der 2000er Jahre Gerüchte, dass man von THE LAMB zum 30. Geburtstag einen Surroundmix erstellen wollte. Das war damals vermutlich mein erster Berührungspunkt mit den Begriffen Surround und Musik und ich dachte, ja, das könnte was Tolles sein und gut klingen. Die Veröffentlichung im Jahr 2004 konnte letztendlich nicht eingehalten werden und wurde um mehrere Jahre überzogen. Das dürfte vor allem an Peter Gabriel liegen, nicht weil Veröffentlichungen, die mit ihm zu tun haben, gerne mal länger auf Eis gelegt werden (auf den Nachfolger seines letzten richtigen Studioalbums Up wartet man bereits seit 17 Jahren), sondern, weil er den ersten Entwurf des Surroundmixes für zu frontlastig fand.

Wie auch immer, da man das Datum eh nicht mehr einhalten konnte, wurden kurzerhand alle restlichen Genesis-Alben (bis auf das Debütalbum von 1969) ebenfalls in Surround abgemischt. Diese wurden schließlich zwischen 2006 und 2008 jährlich in Form von drei quadratischen Boxen auf SACD/DVD-Kombis veröffentlicht. Alle SACDs konnte man aber auch einzeln beziehen mit der Ausnahme von THE LAMB LIES DOWN ON BROADWAY, welche nur in der Box 1970-1975 erschienen ist.

Erstellt wurden alle Mixe von Nick Davis unter notarieller Aufsicht von Tony Banks.


Tracklist:

1 The Lamb Lies Down on Broadway – 4:54
2 Fly on a Windshield – 2:45
3 Broadway Melody of 1974 – 2:11
4 Cuckoo Cocoon – 2:13
5 In the Cage – 8:12
6 The Grand Parade of Lifeless Packaging – 2:46
7 Back in N.Y.C. – 5:39
8 Hairless Heart – 2:10
9 Counting Out Time – 3:41
10 Carpet Crawlers – 5:16
11 The Chamber of 32 Doors – 5:45
12 Lilywhite Lilith – 2:49
13 The Waiting Room – 5:17
14 Anyway – 3:17
15 Here Comes the Supernatural Anaesthetist – 2:49
16 The Lamia – 6:58
17 Silent Sorrow in Empty Boats – 3:01
18 The Colony of Slippermen 8:12
a. The Arrival
b. A Visit to the Doktor
c. The Raven
19 Ravine – 2:06
20 The Light Dies Down on Broadway – 3:32
21 Riding the Scree – 4:07
22 In the Rapids – 2:22
23 it – 4:19

Gesamtdauer: 94:15


Die Musik:

THE LAMB LIES DOWN ON BROADWAY ist das letzte Studioalbum der Band, bei dem Peter Gabriel mitgewirkt hatte. Man wollte unbedingt ein Konzeptalbum machen, also über die komplette Platte eine Geschichte erzählen. Eine der ersten Ideen war es, Der Kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry zu vertonen. Peter Gabriel schwebte aber eher eine düstere, surreal, kafkaeske Geschichte vor, die er nach und nach herausarbeitete. Er schrieb die Texte, während der Rest der Band die Musik komponierte. Das brachte einige Probleme mit sich. Gabriel schrieb eine Menge Texte. Seine Geschichte vom puertoricanisch-stämmigen New Yorker Punk Rael, der in eine Art Parallelwelt skurrile Abenteuer erlebt, wurde zunehmend komplexer, sodass mehr und mehr Musik notwendig wurde und aus dem Album schnell ein Doppelalbum wurde. Zudem arbeitete Gabriel sehr langsam. Hinzu kam, dass Regisseur William Friedkin, der gerade mit dem Exorzisten großen Erfolg hatte, an Gabriel baggerte und mit ihm ein Drehbuch verfassen wollte und außerdem Gabriels Frau eine Frühgeburt mit Komplikationen hatte. Schließlich mussten ihn Tony Banks und Mike Rutherford bei den Texten helfen, bei einer Geschichte also, deren Handlung vermutlich nur Gabriel selber einigermaßen verstand.

Musikalisch gesehen ist das Album völlig anders als sein Vorgänger Selling England By The Pound, der im Jahr zuvor veröffentlicht wurde. Dieses klang noch viktorianisch, englisch, verträumt, romantisch, symphonisch. THE LAMB LIES DOWN ON BROADWAY dagegen klingt größtenteils spröde, kalt, düster, fremd, als wäre es ein Album von einer völlig anderen Band. Hinzu kommt, dass auf THE LAMB mehrere kurze Songs dominieren, während Genesis zuvor eher in langen Stücken ihre Bestimmung fand. Bemerkenswert ist zudem, dass über dem gesamten Album diverse musikalische Themen an anderen Stellen wieder auftauchen. Es ist unbekannt, ob man dadurch dem Album seinen zusammenhängenden Charakter geben wollte oder man für Gabriels Texte schlichtweg unter dem vorherrschenden Zeitruck nichts neues zu Papier brachte. Jedenfalls wurde dies über die Jahre ein Stilmittel, das viele Konzeptalben haben, wie z.B. The Wall von Pink Floyd oder Brave von Marillion.

Warum ist dieses Album mein Lieblingsalbum? Ganz ehrlich ich weiß es nicht. Ich hab es jahrelang eher wenig beachtet: Ja, ein gutes Album, aber bei weitem kein Überalbum. Aber irgendwann hat es plötzlich klick gemacht, buchstäblich von einem Moment auf den nächsten. Die Texte kapiere ich immer noch nicht, aber es ist diese eigenartige Musik, diese seltsamen Sounds, die bizarre Atmosphäre über die gesamten 90 Minuten, die einem die Geschichte in Form von Noten lebendig erscheinen lassen. Man muss sich darauf einlassen. Es ist ein Album, welches unbedingt am Stück gehört werden muss, da die einzelnen Songs bis auf wenige Ausnahmen für sich alleine nicht adäquat wirken.

Wertung: 100 %


Besetzung:

Peter Gabriel – lead vocals, flute,
Steve Hackett – acoustic and electric guitars
Mike Rutherford – bass guitar, 12-string guitar
Tony Banks – Organ, E-Piano, Harpsichord, Mellotron, ARP Pro Soloist synthesizer, String Synthesizer, Piano
Phil Collins – Drums, Percussion, Vibraphone, backing vocals

Brian Eno – Enossification (vocal treatments)


Der Surroundmix:

Nach den Bandcredits steht seit jeher im Booklet des Albums: With variation on the above and experiments with Foreign Sounds. Wie klingt nun ein Album in Surround, welches voll gespickt ist mit seltsamen Geräuschen, die diese surreale Stimmung hervorrufen? Es klingt fantastisch! Man taucht regelrecht in diese Welt ein und begleitet den Protagonisten Rael auf seiner Reise zu sich selbst. Es fängt bereits mit dem Intro des Titelstücks an. Tony Banks spielt auf dem Klavier sein schnelles Rachmaninov‘sches Intro mit überkreuzten Händen, während verzerrte Gitarrensounds wie eine dicke Hummel durch den Raum schwirren.

Gerade was die Gitarrenarbeit von Steve Hackett angeht, der mit seinem Anteil auf dem Album nie zufrieden war und gerne behauptet, dass THE LAMB nicht mit ihm, sondern trotz ihm aufgenommen wurde, scheint hier um einiges besser heraus hörbar zu sein. Er entlockt an vielen Stellen im Album seiner Gitarre merkwürdige Klänge, die eher im Hintergrund zu hören sind und man eher einem Synthesizer zuschreiben würde. Er ist auf diesem Album mehr für die Farbtupfer zuständig, als mit vielen Gitarrensoli zu glänzen.

Tony Banks nutzt auf THE LAMB recht häufig die mystischen Chorsounds des Mellotrons. Diese Sounds dürften verantwortlich sein, dass Radioheads OK Computer gerne mal mit THE LAMB LIES DOWN ON BROADWAY verglichen wird. Wie dem auch sei, alles was irgendwie nach weiten Flächen klingt, Orgeln, Mellotronstreicher und eben die Chöre werden häufig von hinten in den Raum ausgebreitet, sodass sie sich wie eine Klanglandschaft ausbreiten. Keyboardsoli sind oft vorne zu hören, es gibt aber auch Stellen auf dem Album, wo sie auch in die hinteren Lautsprecher gelegt werden.

Das Schlagzeug von Phil Collins ist häufig frontlastig gemischt, wird aber bei einigen Stücken auch bewusst in den kompletten Raum gelegt, zu hören vor allem bei den rockigeren Stücken wie Fly On The Windshield und Back in NYC, bei dem die Snare schon aus den Rears zu kommen scheint. Eine Menge perkussiver Arbeit hat der spätere Superstar auf diesem Album ebenfalls zu leisten. Wie sollte es auch anders sein, klingt selbst die Percussion in dieser kafkaesken Klangwelt alles andere als normal und man hört in allen Ecken des Raumes immer mal wieder eigenartige Klänge. Außerdem entdeckt man Neues im Vergleich zum Mix von 1974! Zum Beispiel ein Glockenspiel in Cuckoo Cocoon und Hairless Heart.

Mike Rutherfords Tieftöner auf dem Bass und den Basspedals wurden wie allgemein üblich in die vorderen Kanäle gelegt und sind dort sehr gut wahrnehmbar. Manchmal habe ich aber auch das Gefühl, dass er mehr in den Raum geschoben wird. Spätestens mit seiner zusätzlichen Gitarrenarbeit auf der 12-seitigen gelangt er auch in die anderen Ecken des Zimmers.

Der Gesang kommt wie bei allen Surroundmixen von Genesis diskret aus dem Center Lautsprecher. Hintergrundgesang wird in der Regel über die hinteren Kanäle betrieben. Es gibt aber auch eine Menge an Effekten und Stimmverfremdungen, die Mitte der 70er noch völlig neuartig waren, bei denen sich die Band Hilfe bei Brian Eno geholt hat. Das ist die reinste Spielwiese, was die Verteilung dieser Klänge im Raum angeht. Man achte nur auf die Stimmen in The Grand Parade of Lifeless Packaging. Manchmal schwirren Stimmen von vorne nach hinten, wie bei In The Cage oder The Chamber of 32 Doors. Dann tauchen plötzlich gespenstisch, teuflische Dialoge hinterm Hörer auf (Slipperman). Und erst der 5.1 Mix ließ mich nach Jahren relativ fassungslos feststellen, dass bei Slipperman Phil Collins einige Textzeilen singt und nicht Peter Gabriel. Ist mir nie aufgefallen!

Die akustischen Highlights sind zahlreich vorhanden, aber es sind vielleicht die instrumentalen Stellen auf dem Album, die so richtig in Erinnerung bleiben. Allen voran das kakophonische The Waiting Room. Dies ist über weite Strecken kein Song, sondern eine Klangcollage, die vor allem in Surround Sound voll zu Geltung kommt und eines der Highlights in 5.1 überhaupt. Hier treten aus allen Richtungen die unmöglichsten Geräusche hervor. Wohlgemerkt alles normale Musikinstrumente, der Einsatz an synthetischen Klängen ist eher überschaubar. Es klingt sehr bizarr und man hat in der Tat das Gefühl, als wäre man in eine Art Warteraum des Wahnsinns gefangen. Plötzlich löst sich diese Geräuschkulisse in ein – an Pink Floyd erinnerndes – spaciges Instrumentalstück auf, bei dem sich immer mehr Instrumentenspuren im Raum aufbauen.

Großartig ist auch das sehr mysteriöse Silent Sorrow in Empty Boats. Ein sehr gemächliches, leises Instrumentalstück, bei dem wieder tonnenweise Mellotronchöre ausgeschüttet werden, die sich von hinten am Hörer vorbei wälzen.

Klanglich hat das Album nie besser geklungen. Der Ursprungsmix war doch stellenweise sehr dumpf. Der neue Mix von 2008 klingt luftiger. Aber auch hier gibt es noch einige Stellen, die etwas verwaschener klingen. Carpet Crawlers klingt immer noch größtenteils wie Klangbrei. Auch im Surround lässt sich Klavier und akustische Gitarre kaum auseinanderhalten, was aber vielleicht auch so gewollt ist. Auch das Titelstück klingt (bis  auf die dicke Hummel am Anfang) noch etwas diffus, genauso wie das letzte Stück it. Das sind alles in allem aber minimale Abzüge in der B-Note.

Wertung: 94 %


Vorhandene Tonformate:
SACD DSD 5.1
SACD DSD 2.0
CD Audio
DTS 5.1  (96 kHz / 24 bit)
Dolby Digital 5.1

Album starten:

Das Album ist ein Doppelalbum. Somit hat man es mit zwei SACDs zu tun, die sich beide (sofern man ein SACD kompatibles Gerät hat und dieses so eingestellt hat) automatisch mit dem 5.1 Mix starten lassen. Wer keinen SACD Player sein eigen nennt, kann den Surround-Mix auch von der DVD hören, der da in Dolly Digital und DTS 96/24 vorliegt. Großer Pluspunkt: Das Menü ist so konzipiert, dass man lediglich zweimal Enter drücken muss, um das Album in DTS hören zu können. Hier ist der Vorteil, dass der Mix durchläuft, man also keine Zwangspause in Form von Medienwechsel machen muss.

 


Bonusmaterial:

Das Bonusmaterial ist opulent. Es gibt das obligatorische Interview mit den damaligen Bandmitgliedern zum Entstehungsprozess des Albums (51 Minuten, keine Untertitel), den Mitschnitt einer französischen TV-Sendung von 1974, in der Genesis im Studio I Know What I Like und Supper’s Ready spielen, vergleichbar mit dem Beat Club in Deutschland (30 Minuten). DAS eigentliche Highlight ist aber die Diashow, die auf der DVD während des Albums abgespielt wird. Es ist die restaurierte Diashow, die während der Konzerte der Lamb-Tour hinter der Band gespielt wurde. Leider wird während der gesammten Show der Name des jeweiligen Songs im unteren Drittel des Bildschirms ausgegeben, was sehr störend wirkt. Daher gibt es bei der Aufwertung zum Bonusmaterial eine leichte Abwertung.

Aufwertung: +2 %


Anspieltipp:

The Waiting Room, The Grand Parade Of Lifeless Packaging


Fazit:

Grandioses Album, sehr guter Surroundmix!

Pros / Cons:
+ sehr guter Surroundmix
+ High Resolution (+ 1%)
+ Bonusmaterial (+ 2%)
+ Album lässt sich blind starten

 

GESAMTWERTUNG: 99 %

Erläuterungen zur Bewertung

Verfügbarkeit:

SACD / DVD: Der 2008 erschienene 5.1 Mix wurde nur in der grünen Box mit allen Alben von 1970-1975 vertrieben. Diese ist natürlich längst vergriffen und kostet heute über 500 € – gebraucht. Gelegentlich wird auf online Markplätzen THE LAMB auch einzeln angeboten – für über 200 Euro.

Stand: 04.12.2019

 


Links:

It – Genesis Fanclub

 

4 Replies to “Genesis – The Lamb Lies Down On Broadway”

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